KVNachrichten

pexels-tima-miroshnichenko-8376232

ATIS: Ein häufiges Problem: Was, wenn mehr als ein Medikament ein Risiko für Agranulozytose hat? ​

Frage an ATIS

Ein Kollege, Facharzt für Neurologie und Psychiatrie, fragte: „Ich behandle eine 51-jährige Patientin mit schwer therapierbarer Schizophrenie. Sie hatte bereits einen Schlaganfall und leidet zudem unter Gelenk- und Rückenschmerzen. Aktuell erhält sie Clozapin, Metamizol, ASS100 und Pantoprazol. Nun erhielt ich von der Apotheke ein Fax mit vier Auszügen aus der ABDATA-Datenbank. Da wird angegeben, dass alle vier Medikamente das Risiko der Agranulozytose erhöhen und daher nicht kombiniert verordnet werden dürfen. Was ist Ihre Empfehlung?“

 

Antwort von ATIS

Auf den ersten Blick ist das vielleicht eine Frage, die wegen der besonderen Eigenschaften des Medikamentes Clozapin nur für Psychiater interessant ist. Aber das Problem betrifft ja neben dem oben genannten Clozapin und Metamizol auch noch Thiamazol und Carbimazol, Sulfasalazin und auch Cotrimoxazol, die alle ein Agranulozytose-Risiko im Bereich von 0,1 Prozent und 1 Prozent haben. Für mehr als 100 weitere häufig verordnete Medikamente ist gut belegt, dass auch sie das Agranulozytose-Risiko erhöhen [1], jedoch deutlich seltener. Insofern ist es von praktischem Interesse zu analysieren, wie mit dem Problem umgegangen wird, wenn zwei oder noch mehr Medikamente nötig sind, die ein gewisses Agranulozytose-Risiko haben.

Vereinfacht lassen sich zwei Typen der Agranulozytose unterscheiden: Typ A ist dosisabhängig und tritt vor allem unter Zytostatika auf; er beruht auf einer direkten toxischen Wirkung der Zytostatika auf das Knochenmark. Typ B (in älterer Literatur auch „bizarr“ oder „idiosynkratisch“ genannt) ist nicht vorhersehbar, tritt seltener auf und wird meist immunvermittelt ausgelöst. Außerhalb der Chemotherapie – und bei allen hier genannten Arzneimitteln – handelt es sich nahezu immer um Typ B (auch als „non-chemotherapy-induced“ bezeichnet). Bei diesem Typ bringt eine Dosisreduktion keinen Schutz: Liegt ein Verdacht vor, darf das betroffene Arzneimittel nicht erneut verabreicht werden.

 

Für eine allgemeine Betrachtung stellt sich die Frage, ob das Risiko insgesamt unangemessen hoch wird, wenn zwei Medikamente kombiniert werden, die beide eine Agranulozytose auslösen können. Statistisch ausgedrückt geht es darum, ob sich das Risiko lediglich additiv oder überadditiv erhöht.

 

Bei der genannten Patientin liegt das Risiko unter Clozapin bei etwa 0,5 Prozent (≈ 1 von 200 Personen) im ersten Behandlungsjahr, unter Metamizol bei etwa 0,05 Prozent (≈ 1 von 2000). Additiv ergäbe sich ein Gesamtrisiko von rund 0,55 % (≈ 1 von 180). Der Beitrag von Metamizol wäre somit vergleichsweise gering; das Gesamtrisiko wird im Wesentlichen durch Clozapin bestimmt. Pantoprazol weist ein sehr niedriges, nicht genau quantifizierbares Agranulozytose-Risiko auf. Nimmt man rein hypothetisch einen Wert von 0,0001 Prozent (1 von 100 000) an, würde die Kombination mit Clozapin das Risiko von 0,5 Prozent auf 0,5001 Prozent erhöhen – eine praktisch irrelevante Änderung. Gelegentlich wird aber in der Literatur diskutiert, dass sich Risiken überadditiv verhalten könnten; Laborbefunde lassen sich dafür anführen. Allerdings erlauben Laborexperimente bei immunvermittelten Reaktionen nur eingeschränkt irgendwelche Vorhersagen für den Menschen, und es gibt keine belastbaren klinischen Belege für eine überadditive Risikoerhöhung. Ja, Fallberichte zu Agranulozytosen unter gleichzeitiger Gabe von z.B. Clozapin und Pantoprazol existieren – was jedoch nicht überrascht und erst recht keine überadditive Risikoerhöhung belegt, da auch psychiatrische Patienten häufig säurebedingte Magen-Darm-Erkrankungen haben und folglich beide Medikamente parallel benötigen.

Die Überlegung zur Kombination von Clozapin mit Pantoprazol gilt auch für viele andere Medikamente mit sehr geringem Agranulozytose-Risiko, deren geschätzte Inzidenz zwischen unter 1:1000 und 1:1000000 liegt. Bei den wenigen Wirkstoffen mit einem deutlich höheren Risiko zwischen etwa 1 Prozent und 0,1 Prozent – wie Clozapin, Metamizol, Thiamazol, Carbimazol, Sulfasalazin und Cotrimoxazol – ergibt sich jedoch ein zusätzlicher pragmatischer Aspekt: Tritt unter einer Kombination von zwei dieser Medikamente eine Agranulozytose auf, lässt sich der auslösende Wirkstoff nicht sicher identifizieren. Dies schränkt die weiteren Therapieoptionen erheblich ein. Aus diesem Grund haben wir im vorliegenden Fall einer mit Clozapin behandelten Patientin empfohlen, auf Metamizol zu verzichten [2]. Als Alternativen kommen Opiate, Ibuprofen oder Celecoxib infrage; diese sind jedoch ebenfalls nicht risikofrei. Daher halten wir es im Einzelfall auch für ärztlich vertretbar, Clozapin und Metamizol zu kombinieren, sofern die Nutzen-Risiko-Abwägung dies rechtfertigt.

 

Die Kombination von Pantoprazol und Clozapin bei „unserer“ 51-jährigen Patientin ist gut vertretbar, sollte jedoch zum Anlass genommen werden, die Indikation für Pantoprazol kritisch zu prüfen. Im vorliegenden Fall wurde eine Nahrungsmittelunverträglichkeit angegeben – keine anerkannte Indikation für Pantoprazol. Die ASS-100-Therapie sollte nach einem Schlaganfall selbstverständlich nicht abgesetzt werden. Eine Umstellung auf Clopidogrel wäre zwar möglich, doch angesichts des äußerst geringen Agranulozytose-Risikos von ASS könnte das Risiko durch die Umstellung selbst den potenziellen Nutzen übersteigen. Bekanntlich treten viele unerwünschte Arzneimittelwirkungen im zeitlichen Zusammenhang mit Medikationsänderungen auf. Unter Clozapin ist ohnehin ein regelmäßiges Leukozyten-Monitoring erforderlich; bei zusätzlicher Gabe potenziell risikobehafteter Medikamente sollte dieses in den ersten zwei Monaten eher engmaschiger erfolgen.

 

Abschließend stellt sich die Frage, wie es zu den zahlreichen Warnhinweisen seitens Apotheken oder der Klinik- bzw. Praxissoftware kommt. Datenbanken wie die oben zitierte ABDATA-Datenbank sammeln Herstellerangaben und wissenschaftliche Publikationen, prüfen diese auf Plausibilität, können jedoch keine patientenindividuelle medizinische Bewertung vornehmen. Auch die pharmazeutischen Hersteller, deren Daten in solche Systeme einfließen, agieren oft bewusst vorsichtig und melden selbst Einzelfälle unerwünschter Wirkungen – auch wenn die Kausalität nicht gesichert ist. Dies unterstreicht die Bedeutung der individuellen ärztlichen Nutzen-Risiko-Abwägung und zeigt zugleich, dass ein Tool wie ATIS in bestimmten Fällen wertvolle Unterstützung bieten kann. Methoden der Künstlichen Intelligenz könnten diese Entscheidungsprozesse künftig deutlich erleichtern oder sogar teilweise automatisieren. Mitte 2025 sollten Ärztinnen und Ärzte jedoch noch nicht auf entsprechende Internetangebote vertrauen. Soweit bekannt, existiert derzeit keine nach den hierfür relevanten rechtlichen Bestimmungen zugelassene Software, die eine patientenindividuelle Nutzen-Risiko-Abschätzung bei Arzneimittelinteraktionen leistet.

 

Literatur

[1] E. Garbe. Non-chemotherapy drug-induced agranulocytosis. Expert Opin. Drug Saf. (2007) 6: 323-335

[2] Sehr gut zu lesende Zusammenfassung zur Metamizol-Agranulozytose (mit der DOI im Internet leicht zu finden): DOI: 10.52778/efsm.22.0154

 

Autor:

Prof. Dr. med. Jürgen Brockmöller
Institut für Klinische Pharmakologie, Universitätsmedizin Göttingen