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ATIS informiert: Anticholinergika bei Inkontinenz: Zurückhaltung in höherem Alter und/oder bei kognitiven Einschränkungen dringend geboten​

Frage an ATIS

Ein Kollege, Facharzt für Urologie, fragt: „Es geht um einen 74-jährigen Patienten, den ich seit drei Monaten wegen einer ihn stark belastenden Drang-Inkontinenz behandle. Ich setze Mictonorm Uno® 30 mg ein. Nun kam der Patient gemeinsam mit seiner Ehefrau in meine Praxis. Vor allem die Ehefrau klagte sehr, dass sich seit Einnahme des Medikamentes die bereits zuvor bekannte Demenz dramatisch verschlechtert habe. Ist das denkbar? Ich kann das nicht nachvollziehen. Meines Wissens, auch laut Fachinformation, macht dieses Medikament nur sehr selten zentralnervöse Störungen.“

Antwort von ATIS

Ob die kognitiven Einschränkungen des Patienten tatsächlich durch das Medikament verursacht wurden oder lediglich zeitgleich mit einer natürlichen Verschlechterung der Demenz aufgetreten sind, lässt sich nur durch ein Absetzen des Präparats beurteilen. Sollte sich der kognitive Zustand innerhalb weniger Tage bis Wochen nach dem Absetzen deutlich verbessern, wäre dies ein starker Hinweis darauf, dass das Medikament die zentrale Ursache der Verschlechterung der Demenz war.

 

Alternativ könnte das Präparat auch in einer Phase fortschreitender Demenz verordnet worden sein - in diesem Fall handelt es sich um ein klassisches Beispiel für ein sogenanntes confounding by indication, also eine Überlagerung von Krankheitssymptomen und Nebenwirkungen, die ursächlich schwer zu trennen sind.

 

Harninkontinenz ist besonders im höheren Lebensalter weit verbreitet und für viele Betroffene stark belastend. Nicht selten führt sie dazu, dass sich Menschen aus Scham oder Unsicherheit kaum noch aus dem Haus trauen. Auch der Gebrauch von Einlagen wird häufig als unangenehm oder sogar entwürdigend empfunden. Die Hoffnung auf eine wirksame medikamentöse Behandlung ist entsprechend groß - was auch die Vielzahl an verfügbaren Präparaten erklärt. Dabei ist bekannt, und wird von der Mehrheit der Fachleute betont, dass auf eine medikamentöse Therapie möglichst verzichtet werden sollte [1].

 

Die zur Behandlung der Dranginkontinenz eingesetzten Medikamente sind meist Anticholinergika, die die Blasenkontraktion hemmen und so den Harndrang reduzieren. Trotz nur mäßiger Wirksamkeit sind in Deutschland acht Wirkstoffe aus dieser Klasse zugelassen (Tabelle).

 

Bezüglich möglicher zentralnervöser Nebenwirkungen wird häufig Trospium als vergleichsweise sicher genannt - aufgrund seiner positiven Ladung und Wasserlöslichkeit kann es die Blut-Hirn-Schranke (BHS) nur schwer überwinden. Diese Eigenschaften sind in der Tabelle dargestellt. Wesentlich für die BHS-Passage sind erstens der pKa-Wert (je höher dieser ist, umso stärker bzw. vollständiger ist das Medikament geladen, und hat im Durchschnitt damit eine schlechtere BHS-Passage). Und zweitens der LogD-Wert (je höher dieser ist, desto fettlöslicher ist das Medikament, und wird meist entsprechend leichter ins Gehirn aufgenommen). Propiverin (Mictonorm Uno®) ist sehr fettlöslich und daher potenziell ZNS-gängig. Nur Trospium stellt eine Ausnahme dar, es ist immer positiv geladen und eher wasserlöslich. Allerdings sind zentrale Nebenwirkungen auch hier nicht ausgeschlossen, da das Gehirn viele wasserlösliche und geladene Stoffe aktiv aufnehmen kann.

 

Literatur
[1]  J. Hamill et al. Ayahuasca: Psychological and Physiologic Effects, Pharmacology and Potential Uses in Addiction and Mental Illness.  Current Neuropharmacology, 2019, 17: 108-128

[2]  J. Jungwirth et al. Psychedelika und Dissoziativa in der Psychiatrie: Herausforderungen in der Behandlung. Der Nervenarzt, 2024, 95: 803–810

[3] A.T. Shulgin; A. Shulgin. TiHKAL: The Continuation (1st ed.). Berkeley, CA: Transform Press. 1997.

 

Autor
Prof. Dr. med. Jürgen Brockmöller
Institut für Klinische Pharmakologie
Universitätsmedizin Göttingen

Substanz Handelspräparate
(Beispiele)
pKa LogD
Oxybutynin Dridase®, Yentreve® 8,8 4,4
Tolterodin Detrusitol®, Generika 10,9 2,8
Fesoterodin Toviaz® 10,6 2,7
Darifenacin Emselex® 11,1 4,4
Solifenacin Vesicare® 8,9 2,5
Propiverin Mictonorm Uno®, Generika 8,7 4,2
Flavoxat Urispas® 7,9 4,0
Trospiumchlorid Spasmex®, Spasmolyt®, Urivesc® > 14 -0,5

Soweit zur pharmakologischen Theorie - doch wir leben in Zeiten der evidenzbasierten Medizin. Wie sieht also die Datenlage aus? Alle Publikationen belegen eine gewisse Wirksamkeit, die insgesamt jedoch nur moderat ausfällt. Ein aktueller Cochrane-Review [2] bestätigt diesen Eindruck: Es gibt zwar einen Effekt, aber nur eine begrenzte Verbesserung der Lebensqualität - bei gleichzeitig hoher Nebenwirkungsrate.

 

Ein systematischer Vergleich der verfügbaren Substanzen im Hinblick auf kognitive Nebenwirkungen wurde bislang nicht durchgeführt. Wie so oft bei Analogpräparaten fehlen herstellerunabhängige Direktvergleiche; stattdessen stehen meist nur Vergleiche mit Placebo oder einzelnen Substanzen zur Verfügung. Der Review hebt zudem die hohe Therapie-Abbruchrate hervor - mit der einzigen Ausnahme von Tolterodin, das in dieser Hinsicht sogar besser abschnitt als Placebo [2].

 

Neben den kognitiven Einschränkungen spielen auch klassische anticholinerge Nebenwirkungen eine Rolle: Mundtrockenheit und Obstipation sind häufig und belastend, wenn auch symptomatisch behandelbar. Schwerwiegender sind potenziell lebensbedrohliche Nebenwirkungen wie Tachykardie und Herzrhythmusstörungen; also Menschen mit relevanter Herzinsuffizienz oder koronarer Herzerkrankung sollte man diese Anticholinergika besser nicht verordnen.

 

Was haben wir in diesem Fall geraten? Auf jeden Fall sollte das Propiverin so bald wie möglich abgesetzt werden. Wenn Änderungen der Lebensweise und ein Blasentraining hier nicht ausreichend zum Erfolg führen, könnte ein Therapieversuch mit einem anders wirkenden Medikament in Erwägung gezogen werden, nämlich dem Beta-3-Rezeptoragonisten Mirabegron (Betmiga®). Mirabegron verursacht keine anticholinergen Nebenwirkungen, stimuliert jedoch neben dem Beta-3-Rezeptor auch andere adrenerge Rezeptoren. Die häufigste Nebenwirkung ist ein Blutdruckanstieg, weshalb regelmäßige Blutdruckkontrollen unter der Therapie notwendig sind. Auch bei Mirabegron sollte nach zwei bis drei Monaten überprüft werden, ob der Nutzen erkennbar ist und die Nebenwirkungen vertretbar bleiben. Im Zweifelsfall kann es hilfreich sein, die Belastung durch die Inkontinenz unter und nach einem langsam ausschleichenden Absetzen zu vergleichen.

 

Nicht zuletzt sollte bei männlichen Patienten bedacht werden, dass Inkontinenz auch im Zusammenhang mit einer benignen Prostatahyperplasie auftreten kann. In solchen Fällen kann die Gabe eines Alphablockers wie Tamsulosin zur Besserung der Inkontinenz beitragen - auch wenn das auf den ersten Blick wegen der dadurch induzieren Erschlaffung des Blasenhalses ungewöhnlich erscheinen mag.

 

Literatur

[1] Holt et al. PRISCUS II Projektgruppe. PRISCUS II-Liste: Aktualisierte Liste potenziell inadäquater Medikamente für ältere Menschen in Deutschland. Z Gerontol Geriatr. 2023;56(5):442–453. doi:10.1007/s00391-023-02183-5

 

[2] Stoniutea et al. Cochrane Database of Systematic reviews Review - Oral anticholinergic drugs versus placebo or no treatment for managing overactive bladder syndrome in adults. 2023. https://doi.org/10.1002/14651858.CD003781.pub3

 

Autor
Prof. Dr. med. Jürgen Brockmöller
Institut für Klinische Pharmakologie
Universitätsmedizin Göttingen