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ATIS: Nutzen, Risiken und Nebenwirkungen pharmakogenetischer Analysen

Frage an ATIS
Ein Kollege, Facharzt für Gynäkologie, fragte: „Letzte Woche legte mir eine Patientin, 42jährig, einen Laborbefund vor mit folgenden Angaben:

  • CYP2D6: Ultraschneller Metabolisierer (DupCYP2D6) - FDA-Black-boxed-Warning
  • CYP3A4*22: Intermediärer Metabolisierer
  • GSTM1: Komplette Deletion (Enzym fehlt vollständig)
  • NAT2: Langsam-Azetylierer
  • COMT: Val158Met homozygot (reduzierte Aktivität)

Die Patientin bat mich um eine Erklärung, was das nun für Ihre Gesundheit und ihre Behandlung mit Medikamenten bedeuten würde. Können Sie dazu beraten?“

 

Antwort von ATIS

Ja, da können wir ärztliche Kollegen und Kolleginnen gern beraten. Allerdings möchten wir zunächst den kritischen Zeigefinger heben: Formal mögen hier die Mindestanforderungen des Gendiagnostikgesetzes erfüllt sein, praktisch aber offenbar nicht. Die Laborärzte hätten die Patientin verständlich informieren müssen - nicht nur per offenkundig nicht allgemeinverständlichem Laborbefund. Das ist umso wichtiger, als es derzeit nur sehr wenige gesicherte Indikationen für Genotypisierungen wie CYP3A4*22, COMT Val158Met, GSTM1-Deletion oder NAT2 gibt. Falls im Einzelfall doch ein zwingender Grund vorlag, hätte der Patientin die Bedeutung von den Ärzten, die den Laborbefund erhoben oder angeordnet haben, klar erläutert werden müssen. Nun aber zur Antwort:

CYP2D6: In Deutschland haben etwa 10 Prozent der Bevölkerung kaum CYP2D6-Aktivität. Bei ihnen wirken Medikamente, die über CYP2D6 abgebaut werden, stärker und verursachen häufiger Nebenwirkungen. Eine Liste der über 100 betroffenen Präparate sprengt hier den Rahmen, lässt sich aber leicht durch Internetsuche nach Wirkstoffname (internationaler Freiname) und CYP2D6 finden. Routinemäßig wird in Deutschland kein Gentest durchgeführt; meist reduziert man die Dosis, wechselt das Medikament oder testet nur in Einzelfällen, wenn schon bei niedrigen Dosen ungewöhnliche Nebenwirkungen auftreten. Besonders in der Psychiatrie kann jedoch eine frühzeitige Genotypisierung helfen, Nebenwirkungen vorherzusehen und schneller eine geeignete Therapie zu finden [1].

 

Bei dieser Patientin lag nicht der bei 10 Prozent vorkommende Aktivitätsmangel vor, sondern eine CYP2D6-Genduplikation, die zu ultraschnellem Stoffwechsel führt. Für die meisten CYP2D6-Substrate bedeutet das verminderte Wirksamkeit. Kritische Ausnahmen sind jedoch Codein, Tramadol und Tamoxifen, die erst durch CYP2D6 in hochwirksame Metaboliten umgewandelt werden (z. B. Codein → Morphin). Darauf bezieht sich die bekannte Warnung („Black-Box-Warning“ in den USA, auch in Deutschland seitenlang in den Fachinformationen): Bei stillenden Müttern mit Genduplikation kann über die Muttermilch gefährlich viel Wirkstoff übertragen werden, was in mehreren Fällen zu tödlicher Atemdepression geführt hat. Deshalb sollten Allgemeinmediziner, Gynäkologen, Zahnärzte und andere Ärztinnen und Ärzte stillenden Frauen niemals Codein- oder Tramadol-haltige Schmerzmittel verordnen. Ein Gentest ist hier nicht nötig, da ausreichend sichere Alternativen zur Schmerzbehandlung verfügbar sind. Bei Tamoxifen ist die Situation komplexer: Viele Leitlinien empfehlen hier keine CYP2D6-Genotypisierung. Dennoch gibt es viele Hinweise, die für eine CYP2D6-Typisierung sprechen. Insofern, und besonders, wenn die Patientin es wünscht, sollte die Genotypisierung durchgeführt werden und bei langsamen Metabolisierern (ca. 10 Prozent der Bevölkerung) sollte dann Tamoxifen möglichst vermieden und durch ein anderes Medikament ersetzt werden, da die Wirksamkeit von Tamoxifen reduziert ist. Wegen der unklaren Empfehlungslage sollte allerdings die Kostenerstattung für den Gentest vorab geklärt werden.

 

CYP3A4 ist am Abbau von etwa einem Drittel aller Medikamente beteiligt. Die Variante *22 kommt heterozygot bei ca. 5 Prozent der Bevölkerung vor und erhöht die Wirkstoffexposition um 10–20 Prozent. Das ist medizinisch unbedenklich und führt meist nicht zu relevanten Nebenwirkungen. Zum Vergleich: Grapefruitsaft kann CYP3A4 hemmen und die Exposition einzelner Medikamente um bis zu 200 Prozent steigern – also etwa das Zehnfache des *22-Effekts. Eine routinemäßige Testung auf *22 ist daher nicht sinnvoll. Bei ungewöhnlichen Nebenwirkungen kann sie jedoch erwogen werden, da homozygote Träger (ca. 1:1000) deutlich höhere Blutspiegel mit >50 Prozent Anstieg bei Medikamenten entwickeln können, die von CYP3A4 verstoffwechselt werden.

 

GSTM1: Bei etwa 50 Prozent der Bevölkerung fehlt das GSTM1-Gen vollständig – ohne Krankheitswert und unbemerkt. Für gängige Medikamente spielt GSTM1 keine relevante Rolle; nur bei einigen Zytostatika (Busulfan, Cisplatin, Cyclophosphamid) gibt es Hinweise auf Bedeutung; die Studienlage ist jedoch widersprüchlich. In der Krebstherapie wird GSTM1 daher bislang nicht berücksichtigt. Das Enzym ist am Abbau von Schadstoffen wie polyzyklischen aromatischen Kohlenwasserstoffen aus Tabakrauch beteiligt. Ein leicht erhöhtes Risiko für bestimmte Krebsarten (z. B. Harnblasenkrebs) ist beschrieben, aber mit etwa 1,5-facher Erhöhung [2] gering und ohne praktische Konsequenzen für Lebens- oder Gesundheitsplanung. Eine Genotypisierung ist daher nur im Rahmen von Studien sinnvoll.

 

NAT2: Bei rund 60 Prozent der Europäer ist die Aktivität der Azetyltransferase NAT2 stark vermindert. Schon Anfang der 1960er Jahre wurde beschrieben, dass Isoniazid bei ihnen langsamer abgebaut wird [3]: Dadurch treten häufiger Neuro- und Hepatotoxizität auf, während schnelle Acetylierer eine geringere Wirksamkeit haben können. In Deutschland wird bei Tuberkulosetherapie keine NAT2-Genotypisierung durchgeführt, in Ländern wie Japan dagegen öfter. Die Neurotoxizität lässt sich jedoch zuverlässig durch Vitamin-B6-Gabe kontrollieren. Auch bei anderen, heute selten genutzten Medikamenten (z. B. Hydralazin, Procainamid, Sulfasalazin) haben langsame Acetylierer ein höheres Nebenwirkungsrisiko. Bei Hydralazin werden deshalb niedrigere Dosen empfohlen, bei allen diesen von NAT2 verstoffwechselten Medikamenten sind ohnehin relativ engmaschige Kontrollen zu Hautreaktionen, Blutbild und Leberwerten unabhängig vom NAT2-Genotyp erforderlich.

 

COMT: Die Variante mit Methionin an Aminosäureposition 158 führt zu leicht verminderter Enzymaktivität – das ist die einzige gesicherte Erkenntnis. Zwar wurde sie in über 6.000 Studien mit verschiedensten psychiatrischen Erkrankungen, Schmerzempfindlichkeit, kognitiven Funktionen und Morbus Parkinson in Verbindung gebracht, doch keine dieser Assoziationen konnte zuverlässig bestätigt werden. Auch ein Einfluss auf die Medikamentenwirksamkeit ist nicht belegt. Dennoch wird die Variante häufig getestet, vermutlich wegen der Vielzahl publizierter Studien. Aber es gibt eben keine gesicherte medizinische Indikation für diese Testung, die außerhalb von Studien also unterbleiben sollte.

 

Allgemein empfehlen wir pharmakogenetische Tests nur dann, wenn für eine bestimmte Gen-Medikament-Kombination ein klarer Einfluss auf Wirksamkeit oder Nebenwirkungen belegt ist – was hier, soweit für uns erkennbar, nicht der Fall war. Warum die fünf Gene getestet wurden, ist uns nicht bekannt; wir stehen nur mit dem anfragenden Arzt in Kontakt und können die gesamte Krankengeschichte nicht beurteilen. Anlass für solch breite Testungen können unklare oder langwierige Beschwerden sein. Gerade bei genetischen Analysen in diesem Zusammenhang besteht jedoch das Risiko einer unbeabsichtigten Stigmatisierung: Die Patientin liest von fünf genetischen „Defekten“, was Krankheitsgefühle verstärken und eine offene therapeutische Haltung erschweren kann. Solches (vermeintliches) Krankheitswissen kann Lebensqualität und sogar Lebenserwartung beeinträchtigen.

 

Literatur

[1]  J. Kirchheiner et al. Pharmacogenetics of antidepressants and antipsychotics: the contribution of allelic variations to the phenotype of drug response. Mol. Psychiatry 9 (2004) 442-473

[2]  J. Brockmöller et al. Combined analysis of inherited polymorphisms in arylamine N-acetyltransferase 2, glutathione S-transferases M1 and T1, microsomal epoxide hydrolase, and cytochrome P450 enzymes as modulators of bladder cancer risk. Cancer Res 56 (1996) 3915-25.

[3]  D.A. Evans, T.A. White, T.A. Human acetylation polymorphism. J. Lab. Clin. Med. 63 (1964) 394–403.

 

Autor

Prof. Dr. med. Jürgen Brockmöller

Institut für Klinische Pharmakologie, Universitätsmedizin Göttingen