Zi - Insight mit Dr. Eckart Lummert, Vorsitzender der Vertreterversammlung der KVN
Statistiken zur Entwicklung der Arbeitsunfähigkeitsfälle (AU-Fälle) zeigen, dass es in den letzten Jahren zu einem deutlichen Zuwachs an AU-Fällen gekommen ist. So lag die Anzahl an AU-Fällen bei den größten gesetzlichen Krankenkassen im Jahr 2021 je nach Krankenkasse zwischen 95 und 149 Fällen pro 100 Versichertenjahren und im Jahr 2023 zwischen 181 und 225 Fällen pro 100 Versichertenjahren. Dies entspricht einem Anstieg von bis zu 95 Prozent. Von den großen Arbeitgeberverbänden wird der hohe Krankenstand problematisiert, dessen Ursache in der Einführung der telefonischen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung gesehen wird.
Die Zi-Analyse auf Basis der pseudonymisierten Arbeitsunfähigkeitsdaten und der vertragsärztlichen Abrechnungsdaten der BARMER für die Jahre 2020 bis 2023 hat jedoch keinerlei Hinweise dafür gefunden, dass die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung per Telefon bzw. per Videosprechstunde die maßgebliche Treiberin des gestiegenen Krankenstandes in Deutschland ist. Die Auswertungen deuten vielmehr darauf hin, dass die Bedeutung der telefonischen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung mit einem Anteil von jährlich 0,8 bis 1,2 Prozent an allen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen für die Gesamtentwicklung der AU-Fälle sehr gering ist, und dass damit der ab dem Jahr 2021 zu beobachtende Anstieg des Krankenstandes nicht erklärt werden kann. Gleiches gilt für die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung per Videosprechstunde, die mit einem jährlichen Anteil von 0,1 bis 0,4 Prozent an allen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen noch geringer ausfällt.
Wahrscheinlicher ist, dass ein Zusammenwirken eines postpandemisch höheren Infektionsgeschehens mit einer erhöhten Erfassungsrate von AU-Bescheinigungen seit der Einführung der elektronischen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (eAU) zu einem Anstieg der AU-Raten seit dem Jahr 2021 geführt hat. So hat die Zi-Untersuchung gezeigt, dass 58 Prozent der zusätzlichen AU-Fälle des Jahres 2022 und 41 Prozent der zusätzlichen AU-Fälle des Jahres 2023 durch akute Infektionen der Atemwege sowie Corona-Infektionen zu erklären sind.
Dr. Eckart Lummert, niedergelassener Facharzt für Allgemeinmedizin und Vorsitzender der Vertreterversammlung der Kassenärztlichen Vereinigung Niedersachsen, machte bei der digitalen Diskussionsrunde „Zi-Insight“ Mitte Oktober deutlich, dass die Möglichkeit der telefonischen Krankschreibung bei Patientinnen und Patienten ohne schwere Symptomatik eine wichtige Maßnahme zur Entbürokratisierung und Entlastung der Praxen sei. Dies gelte auch für den erweiterten Infektionsschutz in den Wartezimmern der Arztpraxen, wenn sich insbesondere atemwegserkrankte Patientinnen und Patienten nicht persönlich vorstellen müssten. Insofern müsse an der telefonischen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung unbedingt festgehalten werden. Gleichwohl seien auch die niedergelassenen Hausärztinnen und Hausärzte gefordert, ihre Krankschreibungspraxis mit Bedacht zu differenzieren. Insbesondere in den sehr wenigen Fällen, wenn Patientinnen und Patienten etwa für einen längeren Zeitraum krankgeschrieben werden wollten. Bei Verdachtsfällen bestelle er diese immer zu einer persönlichen Untersuchung in seine Hausarztpraxis ein. Das stärke die Vertrauenskultur und vermeide gefühlte Gerechtigkeitsprobleme. Die große Mehrheit der Patientinnen und Patienten sei in den Hausarztpraxen aber persönlich bekannt, das gegenseitige Vertrauensverhältnis verhindere den Missbrauch der Tele-AU also per se, so Lummert.
Auch Anne-Kathrin Klemm, vom BKK Dachverband, bekräftigte, dass die immer wieder erhobene Forderung nach Aufhebung der entsprechenden Regelungen wegen vermeintlichen Missbrauchs ins Leere liefe. Bevor man also die Telefon-AU abschaffe, müsse zunächst Transparenz über Ursache und Wirkung hergestellt werden. Die Telefon-AU entlaste Arztpraxen und Personal. Dr. Susanne Wagenmann, von der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), hob hingegen hervor, dass sich die Arbeitgeber auch aufgrund der enorm hohen Kosten, die diesen durch die Lohnfortzahlungen im Krankheitsfall entstünden, auf den hohen Beweiswert und die medizinische Richtigkeit der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen unbedingt verlassen können müssten. Alleine im Jahr 2024 seien den Arbeitgebern dadurch Kosten in Höhe von insgesamt 82 Milliarden Euro entstanden. Der Goldstandard der Krankschreibung müsse weiterhin der persönliche Arzt-Patientenkontakt bleiben, wahlweise ergänzt durch die ärztliche Videosprechstunde.
Mit dem virtuellen Kommunikationsformat Zi insights stellt das Zi alle zwei bis drei Monate neue Studien- und Projektergebnisse vor, um diese mit Expertinnen und Experten sowie digital zugeschalteten Gästen zu diskutieren. Eine Aufzeichnung der aktuelle Diskussion finden Sie hier